Europäische und nationale Identität von Anna, Siede (2018)
Der vorliegende Text befindet sich im Schulbuch im vierten und letzten Lernbereich, „Formen von Geschichtskultur und Identitätsbildung“, welcher laut Lehrplan für den Geschichtsleistungskurs der Jahrgangsstufe 12 vorgesehen ist. Der Inhalt des Buches wurde erarbeitet von Frank Bahr, Adalbert Banzhaf und Leonhard Rumpf, die bereits an mehreren Geschichtsbüchern der Reihen „Anno“ und „Horizonte“ für den Verlag Westermann beteiligt waren.
Das Dokument ist ein Auszug aus Hartmut Kaelbles 1 Aufsatz „Europäische und nationale Identität nach dem II. Weltkrieg“ (Kaelble 1999), der im Schulbuch als letzte Quelle im Unterkapitel „Europäische Identität“ vorgestellt wird. Es verdeutlicht an der Stelle noch einmal die Unterschiede einer „europäischen Identität“ im Vergleich zu Entwicklung und Eigenschaften von nationalen Identitäten, mit denen sich die Schüler am Anfang des übergreifenden Lernbereiches beschäftigt haben sollten. Die „europäische Identität“ wird in diesem Zusammenhang von Kaelble als abweichend von der nationalen Identität dargestellt. Beide müssen sich jedoch nicht ausschließen, sondern können auch nebeneinander existieren (S. 427). In der im Schulbuch wiedergegebenen Passage verwendet Kaelble die Begriffe „europäische Identität(en)“ und „europäisches Selbstverständnis“ abwechselnd, ohne die einzelnen Unterschiede näher zu präzisieren. Bevorzugt wird auf das „moderne europäische Selbstverständnis“ eingegangen, das erst nach den innereuropäischen Kriegen, also in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sein soll. Davon differenziert betrachtet werden die im Mittelalter herausgebildeten „europäischen Identitäten“ (S. 427). Das „moderne europäische Selbstverständnis“ beruhe hauptsächlich auf gemeinsamen Werten und Zielen, wie „Demokratisierung, innere Friedenssicherung und internationale Verantwortlichkeit, Wohlstand und soziale Sicherheit“ und werde nicht an emotionsgeladene Symbole, wie dies bei den Nationalismen der Fall sei, gebunden.2
Die Eigenschaften einer „europäischen Identität“ werden im gesamten Unterkapitel einschließlich der Quellen sehr detailliert behandelt, allerdings wird nur durch die Quellen deutlich, dass es durchaus unterschiedliche Auffassungen über die Ausprägungen „einer europäischen Identität“ gibt. Als Grundlagen dieser Identität werden gemeinsame historische Wurzeln sowie gemeinsame Werte genannt. Außerdem fokussieren die Autoren den Aspekt der Abgrenzung zu anderen Kulturen als Stimulus für innere Einheit, der auch in Kaelbles Aufsatz aufgegriffen wird. In diesem Zusammenhang gehen die Autoren auf die Abgrenzung zum Islam ein, wobei die Auslegung des Islams als Bedrohung von der Vergangenheit bis in die Gegenwart fortgeschrieben wird. Es wird kaum in Frage gestellt, ob dieses Bild noch immer aktuell ist, obwohl im wissenschaftlichen Diskurs hervorgehoben wird, dass sowohl die Islam-Staaten als auch Europa vom interkulturellen Austausch profitiert haben (Eberstadt/Kuznetsov 2008).Das Thema wird von den Autoren nicht direkt im Zusammenhang mit dem Europäischen Einigungsprozess behandelt. Dies ist auf die Konzeption des Lehrplanes zurückzuführen, der vorsieht, die „Europäische Einigung“ und die „Europäische Identität“ in verschiedenen Lernbereichen zu thematisieren. Es wird die These aufgestellt, dass die Europäische Einigung nur möglich war, weil es eine „europäische Identität“ bereits gegeben habe (S. 423). Ob diese zum Teil auch politisch konstruiert wurde um den Rückhalt der Europäer für das „europäische Projekt“ (die EU) zu erlangen, wird nicht erwogen.3In diesem Aspekt weichen die Autoren vom Lehrplan ab, der explizit die Aufgabe stellt: „Beurteilen Sie die europäische Identitätsproblematik zwischen Konstrukt und Realität“. Während das Thema im Allgemeinen lehrplangerecht behandelt worden ist, wurde kaum auf die Problematik der europäischen Identität als Konstrukt eingegangen, die in der aktuellen wissenschaftlichen Debatte einen hohen Stellenwert besitzt (Schmale 2008; Eberstadt/Kuznetsov 2008; Habermas 2004; Schobert/Jäger 2004; Rezension zu Kaelble 2002). Auch die Arbeitsaufträge am Ende des Kapitels zielen nicht darauf ab, die „europäische Identität“ zu hinterfragen, sondern darauf, diese anhand der entsprechend zusammengestellten Quellen zu definieren. Die „europäische Identität“ wird nicht als eine teilweise gegebene, aber vor allem anzustrebende „Vision“, stattdessen als bereits erreichte Realität präsentiert. Die zitierten Ausführungen Kaelbles werden dazu verwendet, die Argumentation der Schulbuchautoren zu untermauern. Neuere Studien betonen jedoch, dass den Schülern die Möglichkeit gegeben werden sollte, ihre eigenen Vorstellungen von Europa zu entwickeln. Der Bildungsauftrag der Schule müsste sein, das problemorientierte Denken bei den Schülern zu fördern, wenn ein europäisches Geschichtsbewusstsein aufgebaut werden soll.4 Das Schulbuch reagierte auf die Krise der EU, die aus der gescheiterten Verfassung und der Debatte um den Vertrag von Lissabon hervorgegangen ist. Es greift die Forderungen der Kultusministerkonferenz auf, die bereits 1990 eine stärkere Identifikation mit Europa im Unterricht gefordert hatte. Die Reaktion der Schulbuchredaktionen und Verlage auf dieses Desiderat schlägt sich in den aktuellen Schulbüchern nieder, die bereits damit begonnen haben, entsprechende Identitätsangebote aus dem wissenschaftlichen Diskurs in ihren Darstellungen aufzunehmen.5
Literaturverzeichnis
- Eberstadt, Meike; Kuznetsov, Christin: Bildung und Identität. Möglichkeiten und Grenzen eines schulischen Beitrags zur europäischen Identitätsentwicklung (Grundfragen der Pädagogik, 11), Frankfurt/M., Lang, 2008.
- Elvert, Jürgen; Nielsen-Sikora, Jürgen (Hg.): Leitbild Europa. Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit (Historische Mitteilungen – Beihefte, 74), Stuttgart, Steiner, 2009.
- Habermas, Jürgen: Der gespaltene Westen, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2004.
- Langner, Carsta: Vereintes Europa. Zur diskursiven Konstruktion einer europäischen Identität und ihrer Reproduktion in Schulbüchern, Stuttgart, Ibidem-Verlag, 2009.
- Kaelble, Hartmut: Europäische und nationale Identität nach dem II. Weltkrieg, in: Kieseritzky, Wolther von/Sick, Klaus-Peter (Hg.): Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert, München, Beck, 1999, S. 394-419.
- Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin ; Schmidt-Gernig, Alexander (Hg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M., New York, Campus-Verlag, 2002 [rezensiert von Klaus Große Kracht in: H-Soz-u-Kult, 2002].
- Nieke, Wolfgang: Bildung für Europa – zwischen geopolitischem Wirtschaftsblock und abendländischer Wertegemeinschaft, in: Joas, Hans; Jäger, Friedrich (Hg.): Europa im Spiegel der Kulturwissenschaften (Denkart Europa. Schriften zur europäischen Politik, Wirtschaft und Kultur, 7), Baden-Baden, Nomos, 2008, S. 226-244.
- Nielsen-Sikora, Jürgen: „Europa der Bürger“ – Leitbild der Europäischen Union, in: Elvert/Nielsen-Sikora (2009), pp. 256-280.
- Schmale, Wolfgang: Geschichte Europas, Stuttgart, Vienna, Böhlau, 2001.
- Schmale, Wolfgang: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Stuttgart, Kohlhammer, 2008.
- Schobert, Alfred; Jäger, Siegfried (eds.): Mythos Identität. Fiktion mit Folgen, Münster, Unrast-Verlag, 2004.
- Quenzel, Gudrun, Konstruktionen von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union, Bielefeld, Transcript-Verlag, 2003.
[1] Hartmut Kaelble, geb. 1940, Professor (emeritus) für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin; Gastaufenthalte an der Harvard University, am St. Antony\'s College Oxford, an der Erasmus-Universität Rotterdam, an der Maison des Sciences de l\'Homme und an der Sorbonne/Paris. Zahlreiche Publikationen zur europäischen Geschichte.↩
[2] Zu anderen Ergebnissen - sowohl im Bezug auf den Aspekt der emotionalen Verbundenheit mit Europa als auch hinsichtlich der ähnlichen bzw. vergleichbaren „Dimensionen“ (Öffentlichkeit, Geschichte, Politik, Kultur) bzw. „Triebkräfte“ (Inklusion, Exklusion) von Konstruktion der europäischen und denen der nationalen Identität - kommt nach ihrer quantitativen Analyse der politik- bzw. sozialwissenschaftlicher Diskurse Carsta Langner (2009).↩
[3] „Europäische Identität“ bzw. eine Identifikation mit Europa gilt als Legitimationsgrundlage der Europäischen Union, sie wird als Voraussetzung der Europäischen Einigung konstruiert. Vgl. Nieke (2008). Zur Problematik der politischen Indienstnahmen der Europakonzepte sowie zum Konstruktcharakter Europas vgl. Schmale (2001); Quenzel (2003); Elvert/Nielsen-Sikora (2009).↩
[4] Seine eigene (europäische) Identität zu bilden müsse jedem selbst überlassen sein, aber Bildung kann dabei unterstützend funktionieren: „In diesem Sinne soll die Schule den Heranwachsenden die Möglichkeit eröffnen, Europa als gestaltbares und veränderbares Konstrukt zu erfahren und es nicht ideologisch als unantastbare makellose Konstante verklären“. Vgl. Eberstadt/Kuznetsov (2008), S. 67.↩
[5] Siehe u.a. die Schulbücher von Bernlochner, L. (Hg.), Geschichte und Geschehen II (Oberstufe, Ausgabe A/B), 2. Aufl. Stuttgart: Klett 1997, S. 523; Bender, D. u.a. (Hg.), Geschichte und Geschehen: Neuzeit (1789-2005), 1. Aufl. Leipzig: Klett 2005, S. 454 (beide Bände zugelassen u.a. in Sachsen). Vgl. das Grundkonzept des für Bayern konzipierten Lehrbuchs von Bender, D. u.a. (Hg.), Geschichte und Geschehen, Oberstufe Bayern, 1. Aufl. Stuttgart/Leipzig: Klett 2010. Allgemeine Ausführungen bei Langner (2009).↩