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Lund, Erik; Pihl, Mogens: De europæiske ideers historie. Kopenhagen: Gyldendalske Boghandel, Nordisk Forlag, 21. Aufl., 1992, 16–17.

Die Ideen Europas und der europäische Gedanke


[S. 16]

Es finden sich in dieser ganzen Debatte zum Wesen der Gesellschaft zwei weitere Ideen, deren Erkenntnis und Entwicklung von Bedeutung sind. Die erste ist die Achtung vor der einzelnen Individualität. In der zeitgenössischen westlichen Kultur ist es ein tiefliegender Gedanke, dass jeder Mensch etwas unendlich Wertvolles ist. Natürlich gibt es sehr große Unterschiede zwischen einzelnen Menschen; einige sind mit Eigenschaften ausgestattet, die sie eindeutig zu wertvollen Persönlichkeiten machen, bei anderen ist das Gegenteil der Fall. Doch hinter solchen Unterschieden gibt es etwas Allgemeinmenschliches, einen grundlegenden Wert, den alle Menschen gleichermaßen besitzen; allein dadurch, dass er ein Mensch ist, ist jeder Mensch unendlich wertvoll. Es können Zweifel herrschen, wie man diese Behauptung begründen soll, oder worin das Wertvolle eigentlich besteht. Innerhalb der Kulturgeschichte Europas hat man sogar sehr verschiedene Dinge betont. Doch je mehr man dem einzelnen Individuum und seinem unantastbaren Wert im Verständnis des Lebens einen zentralen Platz einräumt, desto eher wird man auch dazu geneigt sein, den Menschen unter dem Aspekt der Eigenständigkeit zu betrachten. Man wird in immer stärkerem Maße behaupten, dass die Individualität des Einzelnen grundlegend ist; der einzelne Mensch ist im Besitz seiner inneren Freiheit, er ist selbst die Quelle seiner eigenen Handlungen, er bildet das Zentrum seiner eigenen Welt und darf nicht zu einem Mittel eines anderen Zweckes reduziert werden, das heißt, er darf nicht zu einem Sklaven gemacht werden.

Die zweite Idee hängt mit dem Individualismusgedanken zusammen. Es ist die Idee vom Glück des Einzelnen als das, wonach man unter allen Umständen streben sollte. Es hat von Anfang an dem europäischen Menschen einleuchtend erschienen, dass das höchste Ziel eines jeden Wirkens der Erwerb von Glück sein müsse, doch es hat unabstreitbar ungeheuerliche Unterschiede in der Auffassung davon gegeben, was dieser Begriff beinhaltete. Glück konnte im trivialeren Verständnis gute Tage, Gesundheit, Reichtum, Ruhm und Ähnliches bedeuten. Es könnte die Möglichkeit des mächtigen Herrschers sein, alle seine Triebe befriedigt zu bekommen. Doch es könnte auch bedeuten zu gelingen, dass man sich auf die rechte Art und Weise in seine Ganzheit eingefügt hat, seine Aufgabe erfüllte und sich als Bürger der Gesellschaft verwirklichte. Oder man könnte den Blick nach Innen auf sich selbst richten und das Glück als die innere Ruhe der Seele bestimmen, ihre Unberührtheit oder ihre Formierung nach einem Ideal des Edlen. Nachdem man jedoch der Unabhängigkeit jeder einzelnen Individualität mehr und mehr Bedeutung zuschrieb, wurde man auch häufig dahin geleitet, Glück als die Selbstentfaltung des Menschen zu beschreiben. Das Glück wird weder von den Göttern geschickt, noch vom Schicksal vorgegeben, man produziert es selbst; und es war etwas, worauf man als Mensch einen Anspruch hatte.

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Eine solche Auffassung konnte dazu führen, dass man weiterhin mit sich selbst und seinen inneren Sinneszuständen beschäftigt war; man wollte die berauschende Seligkeit des Glücks spüren und daher durchforstete man seine Gefühle, ob sie dem Ziel entsprachen, und man wurde von tiefem Selbstmitleid ergriffen, wenn es nicht der Fall war.

Ein drittes Gebiet, auf dem die Spannung zwischen Abhängigkeit und Souveränität wichtig gewesen ist, ist das, was vielleicht mehr als alles andere die westliche Kultur kennzeichnet, nämlich die wissenschaftliche Erkenntnis. Die Wissenschaft im eigentlichen Sinne ist ja auf europäischer Grundlage entstanden und die enormen Leistungen, die diese Kulturleistung vorzuweisen hat, beruhen selbstverständlich auf der methodischen Erkenntnis der Natur, ihrer Teile und ihrer Funktionsweisen. Im Laufe der Zeit musste man sich aber die Frage stellen, was Erkenntnis denn überhaupt bedeutet; was bedeutet es und wie kann es sein, dass der Mensch, der sich an einem Ort befindet, die Natur erkennen kann, die doch an einem anderen Ort ist – außerhalb des Menschen? Man könnte diese Frage beantworten, indem man den Menschen abermals als ein abhängiges Wesen betrachtet; es war an die Dinge gebunden und ihnen untergeordnet; die Dinge zu erkennen würde dann heißen, dass man rein passiv ihre Eindrücke annähme; sie würden sich ins Bewusstsein einprägen und die Erkenntnis wäre einfach das Bild, welches sie im Intellekt des Menschen von sich hinterließen. Doch es wäre auch möglich, sich den Menschen in einer aktiveren Rolle in diesem Prozess vorzustellen; die Erkenntnis wäre dann etwas Wirksames; sie hätte ihre Werkzeuge, vorerst die Sinne, und mit ihrer Hilfe erobere sie die Dinge außerhalb; sie zöge die Dinge in ihr eigenes Gebiet hinein; doch dabei entschied sie auch mit, wie diese auszusehen hatten. Die Erkenntnis würde die Dinge so formen oder umformen, dass das, welches der Mensch unter den Dingen verstand, nicht länger mit dem identisch war, was diese Dinge in sich selbst tatsächlich waren. Man könnte so weit gehen zu behaupten, dass vor der Erkenntnis gar keine Dinge existierten. Die Erkenntnis wäre dann in dem Sinne produktiv, dass sie ganz souverän ihre eigene Welt schaffe.

Die Ideen und Probleme, die hier kurz aufgezeichnet worden sind, werden wir im Folgenden in ihrer Entstehung und historischen Entwicklung durch Europas Kulturgeschichte hindurch untersuchen.

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