"Bilder" aus der deutschen Kulturgeschichte (1894)
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Vorwort.
„Bilder aus der Geschichte des deutschen Volkes" — nennt sich das vorliegende Werk. Damit ist schon ausgesprochen, daß wir mit demselben keines jener übersichtlichen, unmittelbar für den Unterricht berechneten Lehrbücher bieten, die wegen der nötigen Vollständigkeit die Thatsachen nur kurz berichten können und deshalb den trockenen Vortrag nicht zu umgehen vermögen. Unser Werk ist ein Lese buch der Geschichte, das, auf Vollständigkeit verzichtend, nur bei den geschichtlichen Höhenpunkten verweilt, diese aber durch möglichst eingehende, in sich abgeschlossene, farbenfrische Darstellungen dem Leser lebendig und plastisch vor Augen führt. Die Unentbehrlichkeit derartiger Bilder für die Belebung des Unterrichts, wie für die Vertiefung und allseitige Auffassung des in dem Lehrbuche kurz zusammengefaßten Stoffes ist allgemein anerkannt. Dazu kommt ferner, daß nur durch eine möglichst reiche Anschauung historischen Lebens in Einzelschilderungen von Charakteren und Kulturzuständen die Geschichte wirklich eine „Schule des Lebens" sein und ihren viel gerühmten Vorzug, in hohem Maße der Charakterbildung des Schülers zu dienen, erzielen kann.
In dem Haupttitel unseres Werkes liegt aber noch eine weitere Tendenz desselben ausgesprochen. Mit voller Absichtlichkeit haben wir angedeutet, daß unsere Bilder aus der Geschichte des deutschen Volkes ausgewählt sind. Neben der Fürsten- und Kriegsgeschichte, die wir, soweit ihre Kenntnis zum Verständnis der Entwicklung des deutschen Volkes notwendig ist, durchaus nicht vernachlässigt haben, nimmt die Kulturgeschichte einen breiten Raum in unseren Darstellungen ein. Mark und Blut, Frische und Leben erlangt die Geschichte erst dann, wenn man dem Pulsschlage des Volkes lauscht, wenn das Leben des Volkes als Haupterscheinnng, nicht aber als ein den Staatshandlungen untergeordnetes Etwas erscheint.
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Unser Werk bietet deshalb eine vollständige Geschichte des wirtschaftlichen und geistigen Lebens unseres Volkes von den ersten Anfängen bis auf die heutigen Tage, seinem Charakter gemäß sich freilich auch in diesen Abschnitten auf die Höhenpunkte der geschichtlichen Entwickelung beschränkend.
„Aus den Meisterwerken deutscher Geschichtschreibung" wurde bei weitem die Mehrzahl unserer Bilder entlehnt, in der Regel wortgetreu, wenn auch hie und da gekürzt, nur selten ans methodischen oder sachlichen Gründen bearbeitet. Daneben sind auch, soweit es anging, Schilderungen aus ursprünglichen Quellen aufgenommen, wobei wir uns von der Erfahrung haben leiten lassen, daß durch manche derartige ursprüngliche Schilderungen das Interesse mindestens ebenso nachhaltig erregt wird als selbst durch die beste Darstellung neuerer Bearbeiter. So erhält unser Werk in gewissem Sinne den Charakter einer historischen Chrestomathie, bie die besten Bilder von Meisterhand vorführt, vollendete, wahrhaft erhebende und ansprechende Gemälde, seien es nun kunstvolle Darstellungen neuerer Geschichtschreiber oder einfache, treuherzige Erzählungen alter Chroniken, seien es gelungene Porträts großer Charaktere oder Genrebilder aus dem Kulturleben verschwundener Generationen.